Manche Gerüchte halten sich auch in der katholischen Überlieferungsgeschichte unausrottbar. Was einmal geglaubt wurde, scheint unantastbar zu sein. Ob das Geglaubte auch wahr ist, wird nicht hinterfragt. Dabei geht es nicht um den Kern des Glaubens, wie er in den vier großen frühchristlichen ökumenischen Konzilien formuliert wurde. Der Streit entbrennt vielmehr um Glaubensinhalte, die in der Tradition der Kirche entstanden sind. Dazu gehört auch die Person der Maria Magdalene, die im 2. Vers des 8. Kapitel erstmalig die Bühne des Lukasevangeliums betritt. Wer am 11. Sonntag im Jahreskreis C das Glück hat, dass der Verkünder des Evangeliums die Langfassung wählt, wird diese Szene zu hören bekommen.
Das Evangelium des 11. Sonntags im Jahreskreis C ist ein Lehrstück der Tradition. Die Langfassung fast zwei Einzelerzählungen zusammen. Der erste Teil erzählt davon, wie Jesus zu Gast im Hause eines Pharisäers ist, als eine stadtbekannte Sündern zu ihm tritt, um ihn zu Salben und seine von ihren Tränen benetzten Füße mit ihren Haaren zu trocknen. Auf die Frage des Pharisäers, wie er sich denn von dieser offenkundigen Sündern berühren lassen könne, folgt ein belehrendes Gleichnis, das zu der Erkenntnis führt, dass Gott vor allem den liebt, der seine Sünde erkennt und zu Gott umkehrt. Das Ausmaß der Sünde ist dabei nicht irrelevant, denn Gottes Liebt scheint von der Größe der Schuld des Umkehrenden abzuhängen. Wenn schon Gottes Liebe nicht an der Schuld zerbricht, wie können dann Menschen einander das Vergeben der Schuld verweigern. So endet der erste Teil des Evangeliums auch folgerichtig damit, dass Jesus der Sünderin die Schuld vergibt – ohne Beichte, einfach so!
Jetzt folgt im Text eine deutliche Zäsur. Die Zeitangabe „In der folgenden Zeit“ verweist auf Ereignisse, die sich nach dem Besuch im Haus des Pharisäers ergeben haben. Jesus zieht umher und verkündet seine Botschaft. Lukas zählt dabei die auf, die Jesus begleiten:
Die Zwölf begleiteten ihn, außerdem einige Frauen, die er von bösen Geistern und von Krankheiten geheilt hatte: Maria Magdalene, aus der sieben Dämonen ausgefahren waren, Johanna, die Frau des Chuzas, eines Beamten des Herodes, Susanna und viele andere. (Lukas 8,1b-3a)
Es ist kein Wunder, dass die Kurzfassung des Evangeliums diese Fortführung weglässt, denn sie scheint keine zusätzlichen Informationen zur vorhergehenden Geschichte zu haben. Das stimmt, denn die Zeitangabe markiert einen deutlichen Neuansatz. Und doch ist es schade, wenn die Zuhörer um diese Fortführung gebracht würden, denn sie hat in der Tradition der Kirche eine erhebliche Auswirkung gehabt. Sie hat dazu geführt, dass Maria Magdalene, die in anderen Evangelien auch Maria von Magdala genannt wird, mit eben jener Sünderin identifiziert wurde, die Jesus im Haus des Pharisäers nahe getreten ist. Eine Sünderin, die offenkundig eine Prostiutierte gewesen seine muss. Traditionelle Spekulationen, aber immerhin Spekulationen der Tradition. Wer jemals an der Tradition zweifelte, machte sich verdächtig, an den Grundfesten des Glaubens zu rütteln.
Allein der Text gibt diese Identifikation nicht her. Denn warum sollte Lukas die Sünderin selbst nicht beim Namen nennen. Es sind die sieben aus Maria Magdalene ausgefahrenen Dämonen, die zu der Identifikation führen. Der wer von sieben Dämonen besessen war, konnte nur eine Sünderin gewesen sein. für Papst Gregor den Großen, der diese Tradition im Jahre 591 in einer Predigt begründete. Und wer wagt es, einem Papst zu widersprechen?
Die Tradition ist fatal, denn sie hat das Bild der Maria von Magdala geprägt. Obwohl sie bis zum Schluss am Kreuz aushielt und obwohl sie die erste Zeugin der Auferstehung war, sie blieb eine Sünderin. In nicht wenigen Passions- und Osterspielen wird ihre Rolle heute noch so interpretiert. So weiß etwa die Darstellerin der Maria von Magdala bei den Passionsspielen 2012 in Klösterle (Vorarlberg) mehr als Lukas, der Evangelist:
Eine Frau mit vielen Männerfreundschaften, die sich das Leben leicht machte und dennoch in die Verzweiflung fällt, wird von den Aposteln aufgenommen, findet zum Glauben und wird so zur Freundin Jesu. (Quelle: http://www.kath-kirche-vorarlberg.at/organisation/kirchenblatt/artikel/die-rolle-sein-nicht-nur-spielen)
Der Text gibt das nicht her. Und die bloße Aussage, aus Maria Magdalene seien sieben Dämonen ausgefahren, reicht alleine nicht nur nicht aus; Dämonen sind in der Antike auch nicht zwingend böse Geister. Dämonen sind eher zur göttlichen Sphäre gehörende, aber selbst nicht göttliche Wesen, die den Schicksalsweg des Menschen legen. Ob dieser gut oder böse ist, ist nicht gesagt. So heißt es etwa bei dem griechischen Dichter Meander:
Neben jeden Menschen stellt sich gleich, wenn er geboren wird, ein Daimon, ein guter Mystagoge des Lebens; denn man darf nicht glauben, dass es einen bösen Dämon gibt, der das Leben schädigt, oder dass Gott böse ist, sondern es ist alles Gute; diejenigen aber, die nach ihrem Charakter schlecht sind […] sprechen dem Daimon die Schuld zu und nenne ihn schlecht, obgleich sie es selber sind. (Menander fr. 550, zitiert bei Nilsson Griechische Religion Bd. 2. S. 204).
Wenn man das auf Maria Magdalene anwendet, dann hat diese tatsächlich eine Bekehrung hinter sich. Aber wohl weniger eine von der nymphomanen Sünderin zur tugendhaften Jesusfreundin, also von der Hure zur Heiligen. Sie hat vielmehr gelernt, ihre inneren Stimmen zu ordnen und die Welt in einem neuen Licht zu sehen. Das Austreiben der Dämonen beschreibt die Auflösung einer inneren Zerrissenheit, die in die Depression führt. Tue dies, oder jenes! Verpass nichts! Was sollen die Leute denken? Vielleicht mache ich jetzt das – oder besser vielleicht das. Wer es jedem Recht machen will, verliert sich selbst. Viele Stimmen verderben das Leben.
Sei! Lebe! In Fülle! – diese Worte Jesu sind geeignet, die innere Kakophonie aufzulösen und der selbstgemachten Depression eine neue Perspektive zu geben. Gehen musste Maria Magdalene diesen neuen Weg immer noch selbst. Jetzt aber ohne Wenn und Aber, ohne „Maybe“!
Eine solche Frau passte wahrscheinlich nicht ins Bild. Eine Frau, die man „Apostolin der Apostel“ nannte – und der ein eigenes, freilich apokryphes Evangelium gewidmet ist. Nach diesem Evangelium wurde der Maria Magdalene von Jesus Exklusivwissen zuteil, das selbst dem Petrus vorenthalten bliebt.
Auch wenn das Evangelium der Maria zweifelsohne gnostisch ist und eine dem Christentum fremde Leibfeindlichkeit predigt – es ist unabhängig davon Zeugnis einer lebendigen Geschichte des frühen Christentums, in der noch lange nicht entschieden war, ob xy einem xx auf dem 23. Chromosomenpaar wirklich vorzuziehen ist, wenn es um die Frage der Vollmacht authentischer Lehre geht.
Eine ehrbare Frau, die wie alle Menschen auf der Suche nach der Bändigung ihrer inneren Stimmen war, kann man am leichtesten dadurch diffamieren, indem man ihr einen unsittlichen Lebenswandel andichtet. Maria Magdalene konnte sich nicht wehren, die Tradition war stärker. Dabei ist Tradition kein Gesetz, sondern ein Ereignis. Davor haben aber die Traditionalisten nach dem tschechischen Theologen Tomáš Halík Angst, denn sie stehen der Tradition als Ereignis im Weg. Tradition ist Weitergabe und Überlieferung. Eine falsche Überlieferung muss korrigiert werden. Das ist Tradition.
Ach würde doch nur die traditionelle Kakophonie vor allem derer, die meinen Gottes Willen zu kennen, durch das Wort dessen, der den Vater geschaut hat, zu einer Symphonie des Lebens werden: Sei! Lebe! In Fülle!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Es ist mir nicht möglich, hier wirklich ein Problem nachzuvollziehen. Grade in ihrer radikalen Wende vom Bösen zum Guten hin wird Maria von Magdala doch in der Tradition las absolut vorbildlich hingestellt.
Genau diese Wende vom Bösen zum Guten bei Maria Magdalena gibt der Text an sich nicht her. Sie ist bereits Interpretation, die eben nicht mehr hinterfragt wird. Der pure Hinweis auf die Dämonen genügt eben nicht.
Herr Dr. Kleine, ein wunderbarer Artikel! Ich danke Ihnen für die Ausführung.
[…] Das ist tatsächlich angesichts der gegenwärtigen Umbruchsituationen von Bedeutung. Die Kirchengeschichte kennt viele solcher Umbruchsituationen. Bei näherem Hinsehen kann man sogar die Frage stellen, ob es überhaupt einmal eine ruhige Phase in der Kirchengeschichte gegeben hat. Das Axiom “ecclesia semper reformanda” (die Kirche ist ständig zu erneuern) lässt demgegenüber eher darauf schließen, dass Veränderung und Umbruch geradezu Wesenseigenschaften der Kirche sind. Ihr Auftrag besteht in der ständigen innovativen Inkulturation der frohen Botschaft in die jeweiligen Zeiten und Kulturen hinein. Bleibt der Inhalt der ihre anvertrauten Botschaft auch gleich, die Form ist doch in ständigem Wandel. Es gilt daher nicht die Alternative Bewahrung oder Entwicklung, sondern das Ineinander von Bewahrung und Entwicklung. Tradition ist kein Zustand, sondern ein Prozess! […]